Wo Enttäuschung auf Verklärung trifft
Berlin - Rund 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland im Wählerverhalten tief gespalten. Während in den alten Bundesländern die Grünen der klare Gewinner bei der Europawahl sind, dominiert im Osten die rechtspopulistische AfD. In Sachsen und Brandenburg wurde sie mit rund 25 beziehungsweise 20 Prozent sogar stärkste Kraft vor der CDU. Wie erklärt sich diese Diskrepanz? Darüber sprach unser Berliner Korrespondent Stefan Vetter mit dem Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer.
BT: Herr Neugebauer, offenbar sind die Wähler in Ost und West immer noch völlig unterschiedlich gepolt. Woran liegt das? Gero Neugebauer: Der wichtigste Grund ist der, dass bei vielen Ostdeutschen die Erwartungen in die Leistungen des demokratischen Systems nicht in dem Maße erfüllt worden sind, wie man sich das dort erhofft hat. Das sind Erwartungen, die der bundesdeutsche Staat nicht erfüllen will oder kann. Zum Beispiel in puncto Arbeitsplatzbeschaffung oder Verkehrsanbindung ländlicher Regionen. Und all das paart sich mit nostalgisch verklärten Erinnerungen an die Leistungen des einstigen Staates DDR. Interview Neugebauer: Zumindest zeigt die Entwicklung, dass die Gewöhnung des Ostens an den Westen und umgekehrt noch nicht den Stand erreicht hat, von dem man schon vor 20 Jahren politisch behauptet hatte, dass er erreicht worden sei. BT: Was macht die AfD im Osten so attraktiv? Neugebauer: Die AfD füllt eine Repräsentationslücke. Einerseits ist sie die Partei jener, die erwarten, dass sie geschützt werden durch vermeintliche oder tatsächliche Bedrohungen von außen, also vor Flüchtlingen und dem Islam. Zum anderen spielen hier enttäuschte Erwartungen an die anderen Parteien eine große Rolle. Insbesondere dann, wenn diese Parteien schon Jahre oder Jahrzehnte die Regierung stellen. Die AfD funktioniert im Osten viel stärker als Seismograf von Problemen, als Bote sozialer Malaisen, die sie zwar nicht zu lösen vermag, die sie aber benennt. Und das reicht vielen schon aus. BT: Früher hat der Osten links gewählt. Warum funktioniert das nicht mehr? Neugebauer: Das ging schon nach der Jahrtausendwende los. Damals fing die PDS an, ihren Status als Anwalt ostdeutscher Interessen zu verlieren. Die Westausbreitung der dann in Linke umgetauften PDS hat ihr im Osten nichts genützt. Auch führt der stärkere Mitgliederzustrom im Westen dazu, dass der Osten nicht mehr primär das Kernwahlgebiet ist. Dort wird die Linke mittlerweile auch zur politischen Elite gezählt, die nur für sich selber sorge und das Gespür für die Bedürfnisse jener Menschen, die sie vorgibt zu repräsentieren, verloren habe. BT: Die Union und die SPD haben im Osten überproportional schwach abgeschnitten. Ist das ein Menetekel für die Volksparteien auch im Westen? Neugebauer: Die großen sozialen Milieus wie im Westen - katholisch oder gewerkschaftsorientiert - hat es im Osten so nie gegeben. Entsprechend geringer sind hier auch die Bindungen zu Union oder SPD. Solche Bindungen nehmen auch im Westen ab. Das zeigt sich besonders bei der SPD, die schon Anzeichen von nachlassender Organisationsfähigkeit aufweist. Insofern geht der Osten da dem Westen voran. BT: Sehen Sie Anhaltspunkte dafür, dass sich das Wahlverhalten in Ost und West eines Tages doch angleichen könnte? Neugebauer: Nein. Es sei denn, man bekäme mit einem Schlag die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Aber das wird nicht passieren.
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